153 #1000tode

Dieses Kind gab es anscheinend nicht. Nicht im Universum ihrer Eltern. Es war fast so, als hätte sie nur geträumt.
Und doch wusste sie davon. Zuerst war es nur so eine ganz blasse Ahnung, anknüpfend an eine sehr rudimentäre Erinnerung, die ihr nie logisch schien.

Sie war noch keine drei Jahre, damals. Da war ihre Mutter, die in jenen Tagen ständig müde und immer umfänglicher geworden war. Dann die Zeit ohne ihre Gegenwart. Und diese lastende, ernste Stille nach ihrer Rückkehr.

Sprachlosigkeit.

Viel später erst, eher durch eine Unvorsichtigkeit der Großmutter, erfuhr sie von jenem kleinen Wesen, welches zu schwach gewesen war, seine Geburt zu überleben.
Ihr Bruder! Nur dieses eine Mal öffnete sich das Fenster in die Vergangenheit einen winzigen Spalt. Und all die Fragen drängten plötzlich herein. Nach dem, was war. Nach dem, was hätte sein können. Und warum überhaupt hatten sie die Erinnerung daran so konsequent verbannt? Sie hätte es gern gewusst. Und sie merkte doch die Widerstände gegen das Fragen.

Wortlose Undurchdringlichkeit.
Auch die Großmutter schwieg fortan, als wäre ihr mit den wenigen Worten auch die Erinnerung entflohen.

Nein, dieses Kind gab es nicht. Nicht wahrnehmbar im Universum ihrer Eltern. Es zog hindurch wie diese Strahlen, die man mit bloßem Auge nicht sehen kann.

Und doch existierte es. Sie spürte es in ihrem Leben. Jeden Tag. Unaufhörlich. So als hätte sich die Sorge, die für das andere Kind nun nicht mehr gebraucht wurde, zu jener gesellt, mit welcher ihre Eltern sie bedachten.

Fast wäre sie davon erdrückt worden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in

Christiane Frohmann (Hg.)
Tausend Tode schreiben
ISBN ePub: 978-3-944195-55-1
ISBN mobi: 978-3-944195-56-8
EUR 4,99; FR 6,00
Version 2, erschienen am 16. Januar 2015

Die Autor- und Herausgeberanteile am Erlös gehen als Spende an das Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin-Pankow.

Die finale Version wird am 13. März 2015 erscheinen.

 

 

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Episode

– für Anika –

Im Foyer das
Piano intoniert
ewig gleiche
nichts sagende
Fahrstuhlmusik
lediglich Tempo
und Lautstärke
verraten etwas
von der Laune
des Spielers
Da schreitet sie
durch den Raum
würdevoll aufrecht
barfuß im Badedress
schreitet durch
den Raum in dem
die Zeit einen
Moment still zu
stehen scheint
schreitet hindurch
über die Terrasse
bis zu dem Ort
wo das Meer mit
salziger Zunge
die Pier beleckt
Auf zu neuen Ufern
denke ich als
sie in die
Wellen hechtet
Dann beginnt die
Zeit wieder
zu laufen im
ewig gleichen Takt
des Pianospiels

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Zustand

Müdigkeit
wie ein
Pilzgeflecht
eingenistet
fein durchzogen
mein Sein
durchwuchert
Morgens im
hellen Badlicht
im Wegschwemmen
der Nachtreste
spüre ich schon
wachsende Sporen
eines latenten
Schlafes

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